Mittwoch, 6. Juni 2007

Fulminanter Auftakt des Alternativgipfels: Ziegler sieht neue planetarische Zivilbewegung

So voll war dieses Gotteshaus wohl schon lange nicht mehr. Die Rostocker Petrikirche platzte aus allen Nähten, als gestern abend der G8-Alternativgipfel mit weit mehr als den erwarteten 1500 TeilnehmerInnen eröffnet wurde. Zwei Tage lang wird die Aufmerksamkeit jetzt auf inhaltliche Debatten, Erfahrungsaustausch und die Entwicklung konkreter Alternativen zur derzeitig vorherrschenden Form der Globalisierung gelenkt sein. Er habe große Hochachtung vor der Kraft und Dynamik, mit der sich die deutsche Zivilgesellschaft entwickele, hatte Jean Ziegler, der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, am Morgen schon in mehreren Fernsehinterviews gesagt. Unzählige Podien, Workshops und Seminare haben die Veranstalter – ein in der deutschen NGO-Geschichte selten breites Spektrum von Organisationen und Initiativen – für die zwei Kongreßtage vorbereitet. Wer hier her kommt, den interessiert die seriöse Diskussion, nicht der Protest als L’art pour l’art.

Die Rede Jean Zieglers (s. Photo von Simon Kremer) prägten drei durchgängige Motive. Es gibt keine Fatalität des täglichen Massakers (in dem alle paar Minuten ein Kind stirbt). Alle globalen Mißstände sind menschengemacht und können von den Menschen radikal reformiert werden. Und: Wir befinden uns an einer Wegkreuzung, an der eine neue planetarische Zivilgesellschaft – das „neue historische Subjekt“ – aufbricht und, beginnend mit der Negation der bestehenden Weltordnung, nach Alternativen sucht. Doch es gibt keine vorgefertigten Modelle: „Den Weg machen Deine Füße selber“, so Ziegler, der eine Fülle historischer Beispiele und philosophischer Zitate, aber auch konkrete Fälle aus der Welt der (fast) allmächtigen Konzerne und der globalen Politikoligarchie der G8 parat hatte, um seine Thesen zu erläutern. Wichtig war dem Redner die Verbreitung von Optimismus, doch verbot ihm der Realismus die klare Beantwortung der Frage: Wer gewinnt, der Dschungel oder die in der Aufklärung und der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte begründete Vernunft? – Wie sehr Ziegler am Ende doch radikaler Pragmatiker ist, offenbarte seine Antwort auf die Frage nach seiner Rolle als UN-Sonderberichterstatter. Er glaube fest an die Deklaration der Vereinten Nationen, und in seiner alltäglichen Arbeit gebe es sowohl Hoffnungsschimmer als auch bittere Niederlagen, etwa wenn er über die UNO erstmals die Einrichtung eines Grundbuchs in Guatemala durchsetzen kann (was vielen Kleinbauern eine Garantie über ihren Landbesitz gibt) oder wenn er ein internationales Bleiberecht für Hungerflüchtlinge aus Afrika durchsetzen will, die EU ihm aber dann einen Strich durch die Rechnung macht.

Die sich anschließende Podiumsdiskussion, an der Thuli Makama (Friends of the Earth Swaziland), Madjiguene Cissé (Sans Papier, Senegal) und Annelie Buntenbach (DGB-Bundesvorstand) versuchte, das anspruchsvolle Thema des Eröffnungspanels („Globalisierung anders denken“) auf die Ebene realer Bewegungen und Erfahrungen herunter zu brechen – zugegebenermaßen ein schwieriges Unterfangen nach Zieglers Feuerwerk. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Moderator, Ulrich Brandt von der Universität Kassel, den Teilnehmerinnen mehr Raum zur Artikulation eigener Erfahrungen gegeben hätte, anstatt Ablauf und Fragestellungen nur nach eigenen Vorlieben zu strukturieren. Aber das dürfte der Neugier der Teilnehmenden auf neue Vorschläge und konkrete Alternativen, nach Vermittlung der Kritik an der G8 mit den eigenen Themen vor Ort keinen Abbruch getan haben.

Hinweis: Ein Team von jungen Journalisten, von sog. MDG-Korrespondenten, hat der deutsche Zweig der UN-Millenniumskampagne nach Heiligendamm geschickt. Ihre Berichte finden sich >>> hier. Ein Audio-Podcast zum Start des G8-Alternativgipfels von Simon Kremer kann >>> hier angehört werden.

Keine Kommentare: