Sonntag, 3. Juni 2007

Auftakt in Rostock: Demonstration mit zwei Gesichtern

(1) Göteborg in Rostock
Das Ablaufmuster ist bekannt. Ein Block von Autonomen löst sich aus dem Demonstrationszug, und das Ritual beginnt. Brandsätze und Steine fliegen, Autos brennen und Schaufensterscheiben gehen zu Bruch. Was gestern in Rostock stattfand, hat seine historische Parallele in den Randalen am Rande des EU-Gipfels im Jahr 2001. Um Inhalte ging es dort genauso wenig wie gestern. Was gestern alle überrascht hat, die Polizei ebenso wie die Organisatoren der Großdemonstration, war die große Zahl der Autonomen und die Brutalität ihres Vorgehens. Selbst die Feuerwehr wollten sie nicht gewähren lassen, als diese ihren Job machen mußte.

Die Veranstalter der Demonstration, die eine große, laute, bunte und friedliche Demonstration wollten, haben das Treiben der Autonomen heute morgen scharf verurteilt. Verständnis äußerten sie auch für die Polizei; sie habe sich im großen und ganzen an die Absprachen gehalten. Allerdings bleibt die Frage, ob es gegen „Straftäter“ (so die Sprachregelung der Polizei) nicht andere Mittel gibt als den großflächigen Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas, unter denen zwangsläufig immer auch friedliche DemonstratInnen zu leiden haben.

(2) Problematisches Konzept: „Choreographie des Widerstands“
Fraglich bleibt ebenfalls, ob das Konzept, das im Vorfeld „Choreographie des Widerstands“ genannt wurde, wirklich der Weisheit letzter Schluß ist. Gescheitert ist es gestern jedenfalls insofern, als mit ihm die Hoffnung einher ging, wirklich alle Spektren „der Bewegung“ in den Protest einbinden zu können. Diese Hoffnung hat sich als Illusion erwiesen. Naiv ist es geradezu, wenn jetzt einige meinen, die Autonomen davon „überzeugen“ zu können, die Angriffe auf die Polizei besser zu lassen.

Notwendig ist eine neue und offene Diskussion darüber, wie mit den „Rändern“ der Bewegung bzw. mit jenen unpolitischen Kräften, deren wichtigste Funktion im konvergenten Zusammenspiel mit der anderen Seite besteht, künftig umzugehen ist. Viele neigen nach den Ereignissen von Rostock jetzt wieder zu der Auffassung, daß nicht alles unter einen Hut zu bringen ist, sondern daß sich die Verantwortung einer Bewegung auch darin erweist, die Kraft zu klaren Trennstrichen aufzubringen.

(3) Bunter Karneval, aber weniger als erwartet
Gerade diejenigen, die im Vorfeld des G8 friedlich für ihre Ideale demonstrieren wollten – etwa die an den zahlreichen großen roten Ballons erkennbaren Anhänger der erlaßjahr.de-Bewegung mit der Forderung nach Streichung der illegitimen Schulden – mögen sich jetzt um einen Teil der Früchte gebracht sehen. Denn es war ja in der Tat eine der phantasievollsten und buntesten Solidaritätsdemonstrationen der letzten Jahre (s. Photo). Und hätte es die Ritual-Randale an den Rändern und in der Rostocker Innenstadt nicht gegeben, wäre dies auch der bleibende Eindruck geblieben.

Da wäre es auch nicht so ins Gewicht gefallen, daß die Gesamtzahl der Demonstranten – ob es jetzt 30.000, wie die Polizei, oder bis zu 80.000 waren, wie die Organisatoren schätzen – in jedem Falle deutlich hinter den Ankündigungen zurückgeblieben sind. Von „beispielloser Mobilisierung“ wird man jedenfalls nicht mehr so ohne weiteres reden können. Bei vielen potentiellen DemonstrantInnen mag die Angst vor gewaltsamen Ausschreitungen mitgespielt haben. Aber daß sich die Zahl von 100.000 Teilnehmern im Vorfeld überall so festgesetzt hatte, sagt auch etwas über die mediale Bedeutung und Hegemoniefähigkeit aus, die die globalisierungskritische Bewegung inzwischen erlangt hat. Es wird großer Umsicht und einer intensivierten inhaltlichen Arbeit bedürfen, diese auch nach den Rostocker Ereignissen aufrecht zu erhalten.

(4) Rostock und Genua versus Gleneagles?
Wenig hilfreich ist dabei die Konstruktion und künstliche Entgegensetzung verschiedener Gipfelprotest-Kulturen, nach dem Motto „Hier der militante Geist von Genua und Rostock – dort die handzahmen Demonstranten von Gleaneagles und die Rockstars, die der G8-Propaganda auf den Leim gingen“, wie sie leider auch gestern wieder von Walden Bello (Focus on the Global South) auf der Abschlußkundgebung versucht wurde. Im Gegenteil: Man kann nur hoffen, daß die Aktionen der kommenden Woche, vor allem der Alternativgipfel vom 5.-7. Juni und das große Konzert der Aktion Deine Stimme gegen Armut am 7. Juni den Eindruck vom mißlungenen Auftakt korrigieren werden.

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